Fast neun Jahre nach Beginn des Dieselskandals bei Volkswagen hat zum ersten Mal der damalige Chef des Unternehmens, Martin Winterkorn, vor Gericht ausgesagt. Der heute 76-Jährige trat als Zeuge in einem Verfahren vor dem Oberlandesgericht Braunschweig auf, in dem Aktionäre Schadenersatz für die entstandenen Kursverluste von VW verlangen.
Winterkorn wirkte gegenüber früheren Auftritten kaum verändert. Er hinkt beim Gehen leicht, was auf seine langjährigen Probleme mit der Hüfte zurückzuführen ist. Die grauen Haare trägt er kurz, dazu eine leichte Brille mit glänzenden Bügeln. Im schwarzen Anzug saß er zwischen seinen beiden Anwälten an einem Tisch gegenüber dem Richter.
Gleich zu Beginn beteuerte der Ex-Chef, dass er sich für unschuldig hält. „Ich war in die Entscheidung über Entwicklung und Einsatz der sogenannten Umschaltfunktion nicht eingebunden“, sagte er. „Ich habe diese Funktion weder gefordert noch gefördert noch ihren Einsatz geduldet.“
Zu den zwei Anklagen, die gegen ihn anhängig sind, sagte er: „Beide Vorwürfe treffen nicht zu.“ Auf die Fragen des Richters antwortete Winterkorn mit kräftiger Stimme, zu Beginn leicht belegt. Seine schwäbisch gefärbte Sprachmelodie klingt etwas abgehackt und ist im Zuschauerraum nicht immer in allen Details zu verstehen.
Für die Befragung Winterkorns hat das Gericht zunächst zwei Tage angesetzt. Die Richter gehen tief in die Details des Dieselskandals, mit Fragen zur Vorgeschichte in der technischen Entwicklung, zu Entscheidungen in Konzerngremien ab 2005. An Details der Sitzungen kann sich Winterkorn mitunter nicht mehr erinnern.
Dass es eine Unterscheidung zwischen Verbrauchs- und Abgaswerten im Labor und auf der Straße gegeben hat, sei ihm 2005 noch nicht bewusst gewesen, sagte er. Später, 2012, habe man sich im Lobbyverband VDA darauf geeinigt, dass die Abweichung beim Verbrauch zwischen Labor und Kundenanwendung nicht den Faktor drei übersteigen solle.
Ins Reden kommt Winterkorn früh in der Befragung, als es beispielsweise um den „Schadenstisch“ geht, eine Runde, die er in seiner Zeit als Qualitätsverantwortlicher und auch später geprägt hat. „Er war sehr unbeliebt bei denen, die ihre Bauteile auf diesem Tisch liegen hatten“, sagte er – weil die Verantwortlichen dort den Chefs Probleme vorlegen mussten.
In den vergangenen Wochen waren schon Winterkorns Nachfolger auf dem VW-Chefposten, Matthias Müller und Herbert Diess als Zeugen aufgetreten. Die Verhandlungen finden wegen des großen Interesses am Auftritt der Ex-Vorstandschefs in der Stadthalle Braunschweig statt.
Für einen Zeitraum gibt Winterkorn keine Auskunft
Winterkorn hatte erst einmal, im Jahr 2017, öffentlich Fragen zum Dieselbetrug beantwortet. Damals war er im Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags aufgetreten. Viele Fragen der Abgeordneten hatte der Ex-Manager allerdings nicht beantwortet, weil die Staatsanwaltschaft Braunschweig gegen ihn ermittelte und er sich nicht selbst belasten wollte.
Diesmal schloss Winterkorn vor Gericht gleich zu Beginn Antworten zu einem ganzen Zeitraum aus, mit Verweis auf seine noch anstehenden Strafprozesse. „Ich bitte um Verständnis, dass ich Fragen nicht beantworten werde, die den Zeitraum ab 27. Juli 2015 bis zu meinem Rücktritt im September 2015 betreffen“, sagte er. Da nehme er sein Recht auf Auskunftsverweigerung in Anspruch. „Alle übrigen Fragen werde ich beantworten.“
Wie Winterkorn den Ausbruch des Volkswagen-Skandals 2015 erlebt hat, wird man in diesem Prozess also nicht erfahren. Sein Nachfolger Müller hatte in seiner Befragung von einem Vieraugengespräch mit ihm kurz nach Bekanntwerden des Betrugs berichtet.
Darin habe ihm der einst von manchen Untergebenen als herrisch bezeichnete Chef „wie ein Häufchen Elend“ gegenübergesessen. Winterkorn habe „völlig irritiert“ gewirkt. Auch ihm sei das Dieselthema „fremd gewesen“, sagte Müller aus.
Die Ursprünge des Betrugs bei VW reichen zurück bis in die Jahre vor dem Amtsantritt Winterkorns auf dem Konzern-Chefposten im Jahr 2007. Winterkorn war in dieser Zeit Chef von Audi. Damals plante man eine Produktoffensive für die USA.
Weil Benzin dort sehr teuer geworden war, wollte VW die Kunden vom „sauberen Diesel“ überzeugen. Man habe das als Gegengewicht zu den Hybridfahrzeugen der japanischen Konkurrenz gesehen, sagte Winterkorn. Davon sei die deutsche Autoindustrie überrascht worden.
Allerdings gab es mit der Abgasreinigung beim Diesel ein Problem – von dem Winterkorn erst später erfahren haben will. Damit die Fahrzeuge die strengen Abgaswerte der Behörden einhalten, bauten Ingenieure des Unternehmens in die Motorsteuerungs-Software einen Trick ein: Auf dem Prüfstand war der Diesel sauber, auf der Straße aber nicht.
Im Jahr 2015 flog der Betrug auf, seitdem wird darum gerungen, wer dafür verantwortlich war. Volkswagen hat der Skandal bisher mehr als 32 Milliarden Euro gekostet.
Deka klagt für 2000 Anleger gegen VW
Das Braunschweiger Anlegerverfahren ist ein Musterprozess, in dem zunächst für einen Kläger – den Fondsanbieter Deka Investment – geklärt werden soll, ob ihm Schadenersatz von Volkswagen zusteht. Von einem entsprechenden Urteil würden danach mehr als 2000 Anleger profitieren, die ebenfalls geklagt hatten. Im Raum steht derzeit eine Schadensumme von rund 4,4 Milliarden Euro. Ob und wie viel VW aber letztlich bezahlen muss, ist aber noch offen.
Die Aktionäre werfen VW vor, sie über den Dieselbetrug nicht rechtzeitig informiert zu haben, also gegen sogenannte Ad-hoc-Pflichten verstoßen zu haben. Tatsächlich war der Skandal am 18. September 2015 durch eine Anzeige der US-Umweltbehörde EPA öffentlich geworden. Ermittlungen der Behörde hatte es schon vorher gegeben.
Die Kläger gehen davon aus, dass der Vorstand von VW schon Jahre zuvor über den Einsatz von Schummelsoftware in Dieselfahrzeugen informiert war. Das bestreiten Unternehmen und Manager bis heute. Von seiner früheren Position, dass auch Informationen aus dem Management unterhalb der Vorstandsebene hätten veröffentlicht werden müssen, ist das Oberlandesgericht in Braunschweig inzwischen abgerückt.
Deswegen werden nun Zeugen dazu befragt, was der Vorstand wusste. Mehr als 80 Personen sind in dem Prozess vorgeladen, die Richter haben Termine für das ganze Jahr angesetzt. Die Befragungen könnten sich aber auch bis ins nächste Jahr ziehen.
Winterkorn folgte weiterhin der Verteidigungslinie, der fast alle VW-Top-Manager bis heute treu sind: Für die Manipulationen an der Motorsoftware waren nach ihrer Darstellung niedere Angestellte verantwortlich, sie selbst hätten damit nichts zu tun gehabt.
„Wenn ein Entwicklungsingenieur seine Ziele nicht erfüllt, hat er sich zu melden“, sagte Winterkorn 2017 vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestags. Er habe aber mit seinem Rücktritt die „politische Verantwortung“ übernommen.
Die beiden Tage vor Gericht kann man als Probelauf für die noch anstehenden Strafprozesse gegen Winterkorn werten. Eigentlich muss sich der Ex-Manager noch in zwei Verfahren in Braunschweig verantworten: Die Staatsanwaltschaft wirft ihm einerseits Betrug, andererseits Kursmanipulation vor.
Im Betrugsprozess sind noch eine Reihe anderer früherer VW-Größen angeklagt, die Verhandlungen laufen bereits seit einigen Monaten. Winterkorns Verfahren hatte das Gericht abgetrennt, weil der Angeklagte von seinen Ärzten in Gutachten als nicht verhandlungsfähig eingestuft wurde. Nach drei Hüftoperationen konnte er nicht über Monate an mehreren Tagen pro Woche im Gerichtssaal sitzen.
Ex-Audi-Chef Stadler und sein Entwickler schon verurteilt
Inzwischen liegt aber eine neue medizinische Einschätzung vor. So könnte Winterkorn wohl ab September im Verfahren wegen Marktmanipulation auf der Anklagebank sitzen. Diesen Prozess hatte das Gericht ursprünglich ausgesetzt, weil man eine im Vergleich zum Betrugsverfahren nur geringe Strafe erwartet hatte.
Im Dezember sind die Richter aber offensichtlich zu einer anderen Einschätzung gekommen. Neben Winterkorn waren auch Diess und Ex-Finanzvorstand Hans-Dieter Pötsch – bis heute Aufsichtsratschef von VW – wegen Marktmanipulation angeklagt. Ihre Verfahren wurden aber 2020 gegen Geldauflagen eingestellt. VW zahlte dafür jeweils 4,5 Millionen Euro an die Landeskasse.
Intern hat Volkswagen die Aufarbeitung des Diesel-Skandals vor drei Jahren für abgeschlossen erklärt. Winterkorn musste damals 11,2 Millionen Euro Schadenersatz an das Unternehmen zahlen, die Management-Haftpflichtversicherung überwies 270 Millionen Euro an VW.
Seine Pension von rund 1,2 Millionen Euro pro Jahr erhält der Ex-Vorstandschef nach wie vor. Winterkorn lebt seit Jahren zurückgezogen in seiner Villa in München Bogenhausen. Das Land verlässt er nicht, weil in den USA noch immer ein Haftbefehl gegen ihn vorliegt. Selbst bei einem Ausflug nach Italien könnte ihm die Verhaftung drohen.
Als einzige Top-Manager aus dem Konzern verurteilt wurden bisher Ex-Audi-Chef Rupert Stadler und sein Motorenentwickler Wolfgang Hatz. Beide legten im vergangenen Jahr in München nach einem Deal mit Gericht und Staatsanwaltschaft Geständnisse ab. Trotzdem könnte ihr Verfahren vor dem Bundesgerichtshof noch weitergehen. Anwälte und Staatsanwaltschaft haben sich die Möglichkeit zur Revision offengehalten.
Die juristischen Folgen des Dieselbetrugs wird Volkswagen also nicht so schnell abschütteln können. Auch wenn der Konzern seit Jahren versucht, mit seiner Elektrostrategie von der schmutzigen Vergangenheit abzulenken. Allein der Anlegerprozess in Braunschweig wird nach Einschätzung von Beteiligten noch bis mindestens bis 2026 dauern. Und die Betrugsverfahren gegen Winterkorn haben noch gar nicht angefangen.
Mancher Beteiligter von damals wird das Ende des Dieselskandals nicht mehr erleben. So wie der, abgesehen von Winterkorn, wichtigste Manager in der Zeit der Manipulationen bei Volkswagen: Ferdinand Piëch. Der ehemalige Vorstands- und spätere Aufsichtsratschef ist im August 2019 gestorben.