Es gibt in der Luftfahrt nichts, wofür es nicht einen coolen englischen Begriff gäbe. IRREG lautet einer, der in diesen Tagen besonders häufig zum Einsatz kommt. Wenn auch nicht unbedingt zur Freude der Beteiligten. Denn das Kürzel steht für Irregularity, eine Unregelmäßigkeit im Flugablauf, ausgelöst zum Beispiel durch Schneestürme, schwere Gewitter oder – Streiks.
Letztere sind zurzeit mit Abstand die häufigste Ursache für unplanmäßige Flugstreichungen. Allein am Mittwoch und Donnerstag der abgelaufenen Woche musste die Lufthansa aufgrund von Arbeitsniederlegungen ihrer Flugbegleiter rund tausend Flüge annullieren, 120.000 Passagiere konnten deshalb nicht wie geplant zu ihrer Reise starten.
Hinzu kamen am Donnerstag und Freitag noch Warnstreiks der Gewerkschaft Ver.di beim Bodenpersonal. Der Frust der Fluggäste steigert sich vor allem unter Vielfliegern von Ausfall zu Ausfall. Früher, so mag manch gestrandeter Passagier gedacht haben, war weniger Streik.
Tatsächlich ist das nicht nur die gefühlte Wahrheit. Wie der Bundesverband der Luftverkehrswirtschaft (BDL) auf Anfrage von WELT AM SONNTAG mitteilt, haben die arbeitskampfbedingten Flugausfälle in Deutschland in den vergangenen Jahren stark zugenommen.
Während 2022 bereits zehn Streikwellen zu insgesamt 2821 gestrichenen Flügen hierzulande führten, waren es im vergangenen Jahr schon 14 mit mehr als 5000 ausgefallenen Verbindungen. Rechnerisch waren 2023 auf Basis der Durchschnittsauslastungen mehr als 700.000 Passagiere in Deutschland von streikbedingten Flugausfällen betroffen.
Mit einem postpandemischen Nachholbedarf auch bei den Arbeitskämpfen hat das nichts zu tun. In den Jahren vor Corona gab es noch ungleich weniger Streikausfälle. 2019 mussten die Airlines nur 1822, ein Jahr davor sogar nur 832 Flüge streichen. Das laufende Jahr dagegen könnte einen historischen Höchststand in Sachen Streik-IRREG markieren. Allein in den ersten zwei Monaten fielen wegen Ausständen 2062 Starts aus.
Dass so viele Flüge gecancelt werden müssen, liegt nicht daran, dass Luftfahrtbeschäftigte besonders streikfreudig sind. Flughäfen sind komplexe Gebilde mit einer Vielzahl von Mitarbeitern, die teils in unterschiedlichen Arbeitnehmervertretungen organisiert sind.
Selbst innerhalb eines Flugzeugs streiten mit der Pilotenvereinigung Cockpit und der Unabhängigen Flugbegleiter-Organisation Ufo zwei verschiedene Gewerkschaften für ihre Mitglieder. Aufgrund der wechselseitigen Abhängigkeit kann der Streikaufruf einer einzigen Gewerkschaft ausreichen, um große Teile des Betriebs lahmzulegen.
Allein die Lufthansa kostete der Arbeitskampf in diesem Jahr schon rund 100 Millionen Euro
Flughäfen und Airlines erlitten laut BDL wegen der Streiks Mindereinnahmen von 395 Millionen Euro seit 2019. „Das dadurch verlorene Geld fehlt jetzt bei den Ausgaben für die Beschäftigten und für Investitionen in den Klimaschutz und in die Stabilität des Flugbetriebs“, sagte BDL-Hauptgeschäftsführer Matthias von Randow.
Allein die Lufthansa kostete der Arbeitskampf in diesem Jahr schon rund 100 Millionen Euro, sagte Konzernchef Carsten Spohr vor Kurzem. Nicht mit eingerechnet war dabei der Streik der Flugbegleiter in dieser Woche, als Spohrs Airline an den Lufthansa-Drehkreuzen München und Frankfurt jeweils mehrere Hundert Flüge streichen musste.
Was es für die Airlines so teuer macht, sind die Folgekosten. Zu den Erstattungen für zurückgegebene Tickets und Hotelkosten für Kunden und Crews kommen Entschädigungsansprüche der Fluggäste. Der Europäische Gerichtshof urteilte vor zwei Jahren, dass Streiks im Einflussbereich einer Airline keinen außergewöhnlichen Umstand darstellen.
Wenn aufgrund von Arbeitsniederlegungen Flüge weniger als 14 Tage vor Abflug gestrichen werden – was aufgrund der kurzfristigen Streikankündigungen praktisch immer der Fall ist –, müssen die Airlines zahlen. 250 Euro gibt es für kürzere Flüge, 600 Euro für die Langstrecke. Für den zeitlich flexiblen Reisenden ist IRREG also vielleicht wirklich ein cooles Wort.