Eine vielleicht 19-Jährige mit Streifen-Pyjama und spitzen Gel-Nägeln prostet mit ihrem leuchtend-roten Drink in die Kamera. Nur ist in dem Cocktail-Glas nicht etwa Alkohol, sondern ein vermeintliches Schlafwundermittel – der sogenannte „Sleepy Girl Mocktail“. Auf der Plattform TikTok gehen Videos wie dieses über den Cocktail gerade viral. Wellness-Influencer berichten, unmittelbar nach dem Trunk tief und fest zu schlafen.
Mocktails, also alkoholfreie Cocktails, wurden in den vergangenen Jahren ohnehin beliebter; nicht nur im „Dry-January“, wo viele Menschen bewusst auf Alkohol verzichten. Mittlerweile gibt es einige Bars, die gar keinen Gin, Wodka und Whisky ausschenken und sich auf die alkoholfreien Alternativen spezialisiert haben. Die ungesunden Effekte von Hochprozentigem und der Suchtfaktor werden den meisten Gelegenheitstrinkern zunehmend klar.
Der neue „Sleepy Girl“-Drink soll darüber hinaus nun noch etwas können, nämlich Menschen besser schlafen lassen. Da jubelt nicht nur die Leber, das Getränk würde damit insgesamt zu einem gesünderen Lebensstil beitragen.
Zumal sieben Prozent der Bevölkerung an Schlafstörungen leiden, wie eine Analyse der Krankenkasse Barmer kürzlich errechnete. Demnach erhöhte sich die Zahl der Versicherten mit entsprechender Diagnose von 2012 bis 2022 um 36 Prozent. Insgesamt gebe es sechs Millionen Menschen in Deutschland mit Schlafstörungen, hieß es. So ein Mocktail wäre eine einfache Lösung für jene, die nachts oft stundenlang wach liegen.
Der neue Schlaf-Drink besteht lediglich aus einem Löffel Magnesium, Sauerkirschsaft und Mineralwasser, manchmal kommt noch Limonade hinzu. Lässt dieses Gemisch uns wirklich schneller einschlafen? Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die zu Nahrungsergänzungsmitteln und Schlaf forschen, sind skeptisch. Sauerkirschsaft ist zwar reich an Melatonin, das Hormon steuert den Schlaf-Wach-Rhythmus – und wirkt daher tatsächlich schlaffördernd.
Theoretisch müsste das also auch für den Kirschsaft gelten. Viele Studien dazu gibt es allerdings nicht; und die meisten davon wurden nur mit wenigen Probandinnen und Probanden durchgeführt.
Pflanzen mit geringen Mengen Melatonin
Die enthaltende Menge an Melatonin im Saft ist zudem viel geringer als bei gängigen Schlafmitteln, zeigt etwa eine Pilotstudie der „National Institutes of Health National Library of Medicine“. Trotzdem konnten die Teilnehmer durch den Kirschsaft besser und auch länger schlafen. Grund dafür könnte die Kombination aus Melatonin und dem ebenfalls enthaltenen Tryptophan sein, als Wirkstoff wird die essenzielle Aminosäure bei Schlafstörungen eingesetzt, mutmaßen die Forscher.
„Das ist ein völlig irrationaler Trend und die Versprechen sind in keiner Weise nachvollziehbar“, sagt Hans Hauner zum „Sleepy Girl Mocktail“. Der Professor für Ernährungsmedizin an der Technischen Universität München hat sich im Rahmen eines Gutachtens mit dem Thema befasst. Bereits seit 30 Jahren sei bekannt, dass viele Pflanzen geringe Mengen Melatonin bilden. Diese liegen aber weit unterhalb der Dosis, die üblicherweise in Melatonin-Präparaten eingesetzt werden, erklärt er.
„Selbst für Nahrungsergänzungsmittel mit Melatonin ist bis heute kein Effekt auf das Einschlafen nachgewiesen“, sagt Hauner. Auch mit melatoninhaltigen Lebensmitteln wie Pistazien oder Tomaten erreiche man die nötige Menge des Schlafhormons nicht.
Liegt es möglicherweise am Magnesium, dass viele nach dem „Sleepy Girl Mocktail“ tief schlummern? Auch hier ist die schlaffördernde Wirkung nicht eindeutig bewiesen. Nur eine Handvoll Beobachtungsstudien deuten darauf hin, dass die Einnahme des Nahrungsergänzungsmittels mit besserem Schlaf verbunden ist, wie eine Studie von 2022 von neun neueren Forschungsarbeiten zeigt.
Was den Frauen auf TikTok wahrscheinlich am meisten beim Einschlafen hilft, ist der Glaube daran, dass der Drink wirkt. Wieder mal zeigt sich an diesem Beispiel, wie stark der Placebo-Effekt sein kann.
Dem Hype ist dennoch etwas Positives abzugewinnen. Schädlich ist so ein Mocktail am Abend jedenfalls nicht, und allemal besser als ein Glas Rotwein. Solche wiederkehrenden Rituale können tatsächlich dazu beitragen, dass Menschen schneller in den Schlaf finden. Ein Kräutertee tut es allerdings auch, der enthält anders als Fruchtsäfte auch keinen Zucker. Der hohe Zuckergehalt wäre wohl am ehesten daran zu kritisieren.